Ich bin das Walross

Premiere am 12. Oktober 2024 im Ost-Passage Theater Leipzig.

Im Stück „Ich bin das Walross“ leben trans Personen als Walrösser im Leipziger Zoo und werden von den Menschen abgesondert. In dieser Welt sind sie tierhafte Projektionsflächen. Zwei Performer_innen führen durch die Geschichte, inkl. Audiocollage aus elektronischer Musik und Walrosspfeifen. 

From the artist who brought to you „Der deutschen Mutter“, die trans*feministische Performance, die 2023 zum Publikumserfolg wurde. Erneut wird der Diskurs in eine Achterbahnfahrt aus Abgründen und Galgenhumor gegossen: Ein Jugendlicher namens Johnny beginnt die Transformation zum Walross, unterstützt von seiner Mutter Silvie und der Walross-Community im Leipziger Zoo. Er ist konfrontiert mit den Irrungen und Wirrungen in Medizin und Bürokratie, sucht aber eigentlich nur nach einer Community. Währenddessen kämpfen die Walrossfeinde Martin Wels und Janine Bückling im Schloss von Connewitz um das Recht der Menschen, die Walrösser auszugrenzen. Wird Johnny seinen Platz in dieser Welt finden?
Mit fabelhaften Kostümen (Fuguero) und mitreißenden Songs werden Frederik Müller (Performance) und Ben Osborn (Musik) dafür sorgen, dass den Zuschauer_innen das Lachen im Halse stecken bleibt. 

Im wald sind ben und frederik in grünen, märchenhaften kostümen. verschiedene posen, closeup und ganzkörper. ben hat ein akkordeon, frederik einen zweispitzigen weißen hut mit schleier.Im wald sind ben und frederik in grünen, märchenhaften kostümen. verschiedene posen, closeup und ganzkörper. ben hat ein akkordeon, frederik einen zweispitzigen weißen hut mit schleier.Im wald sind ben und frederik in grünen, märchenhaften kostümen. verschiedene posen, closeup und ganzkörper. ben hat ein akkordeon, frederik einen zweispitzigen weißen hut mit schleier.
Im wald sind ben und frederik in grünen, märchenhaften kostümen. verschiedene posen, closeup und ganzkörper. ben hat ein akkordeon, frederik einen zweispitzigen weißen hut mit schleier.Im wald sind ben und frederik in grünen, märchenhaften kostümen. verschiedene posen, closeup und ganzkörper. ben hat ein akkordeon, frederik einen zweispitzigen weißen hut mit schleier.

Vor einigen Jahren veröffentlichte der rechte Youtuber Matt Walsh das Bilderbuch „Johnny the Walrus“, das in der US-amerikanischen rechten und christlich-fundamentalistischen Szene als Meisterwerk gegen die „Transgender-Ideologie“ gefeiert wird. Darin wird der kleine Johnny von den Erwachsenen dazu gedrängt, zum Walross zu „transitionieren“, bis sie ihn am Schluss im Zoo aussetzen. Das Buch kletterte 2021 bei Amazon in die Verkaufscharts - in der Sektion LGBTQ. 

Diese drastische Metapher ist Inspiration für „Ich bin das Walross“. Ein Mensch ist in diesem Stück jemand, dem Teilhabe, Zugehörigkeit, Würde und gewisse Rechte zuerkannt werden. Mit der Transformation zum Walross kann eine Person all das verlieren. Sie wird ästhetisch abgewertet, zum sexuellen Objekt gemacht, ausgegrenzt. Die Walrösser navigieren dementsprechend das Objekt-Sein im Verhältnis zum eigenen Geschlecht, in der sie sich natürlich als subjekthaft empfinden, die Projektion auf sich dabei aber nie ausblenden können. Mit der Metapher des Walross wird sich eine entmenschlichende Darstellung von trans Personen angeeignet. Anstatt sich dagegen zu wehren („Wir sind gar nicht hässlich und monströs!“), zeigen wir das Innenleben hässlicher und monströser Wesen. Inhaltlich wird der Verschwörungsmythos der „Transgender-Ideologie“ aufgegriffen und bearbeitet. 

Im Stück wird auch die reale Geschichte der Menschenschauen des Leipziger Zoo benannt. Die von Matt Walsh in seinem Kinderbuch vorgenommene Erzählung über trans Personen als Zootiere, die die historische Wirklichkeit jener kolonialrassistischen Praxen verdeckt, wird dekonstruiert. 

TEAM
Text, Regie, Performance: Frederik Müller
Musik, Performance: Ben Osborn
Dramaturgie: Malisakij
Kostüm / Bühnenbild: Fuguero
Licht: Hannah Susa
Vielen Dank für die Unterstützung von Leipzig Postkolonial und Anna Obeng.

Begleitmaterial von Leipzig Postkolonial

QUELLEN: Website Leipzig Postkolonial
Ausstellungskatalog „Colonial Memory: ReTelling DOAA“ zur gleichnamigen Ausstellung (07.10.2022–05.02.2023) in der Galerie für Zeitgenössische Kunst 

Rassismus als Grundlage des Kolonialismus

Das deutsche Kolonialreich des 19. Jahrhunderts war das Ergebnis jahrhundertelanger Prozesse der Unterdrückung von Menschen und gewaltvoller Aneignung außereuropäischer Ländereien. Daran beteiligt waren vor allem Kaufleute und Unternehmen, Missionare, Forschungsreisende und das Militär, aber auch verschiedene Regierungen wie das Königreich Preußen.

Die Grundlage für die von Europa ausgehenden Versklavungen und den Kolonialismus bildete der Rassismus. Diese Ideologie ermöglichte es, dass nicht-weiße Menschen außerhalb des Menschlichen gesehen und gedacht wurden. Ebendiese Entmenschlichung legitimierte die physische, psychische, strukturelle und individuelle Gewalt gegenüber großen Teilen der Weltbevölkerung.

Während in Europa im Zuge der Aufklärung die Menschenrechte ausgerufen wurden, galten diese jedoch nicht für die gesamte Menschheit. Gleichzeitig diente die rassistische Wissensproduktion europäischer Gelehrter dazu, die gewaltsame Landnahme unter dem Mantel von „Modernisierungs- und Zivilisierungsmissionen“ zu rechtfertigen. Die Verharmlosung der Kolonialgeschichte in Europa einschließlich in Deutschland und die lange Zeit nicht stattfindende öffentliche Aufarbeitung haben kolonialgeprägte Herrschaftsstrukturen bis in die heutige Zeit verstetigt.

Das Deutsche Kolonialreich

Neben der Kolonie „Deutsch-Ostafrika“ (mit den heutigen Staaten Tanzania, Burundi, Rwanda und Teilen Mosambiques) standen gegen Ende des 19. Jahrhunderts teilweise oder unter vollständiger deutscher Kolonialherrschaft auch die heutigen afrikanischen Staaten Togo, Kamerun und Namibia, Niugini (Papua-Neuguinea), mehrere Inselgruppen und -staaten sowie Malo Saʻoloto Tutoʻatasi o Sāmoa (Samoa) in Ozeanien und die chinesische Hafenstadt Qīngdǎo Shì (Qingdao). 

Das deutsche Kolonialreich war somit größer, als viele Menschen heute annehmen: Territorial zählte es mit einer Million Quadratkilometer als drittgrößtes, nach der Bevölkerungszahl gehend mit zwölf Millionen Einwohner*innen als fünftgrößtes Kolonialreich in der damaligen Zeit.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs war das Deutsche Kaiserreich durch den Versailler Vertrag 1919 gezwungen seine Kolonialherrschaft aufzugeben (formal zu beenden). Doch der Wunsch nach dem Wiedererlangen der Kolonien blieb noch lange bestehen: Bis in die 1950er Jahre gab es Vereine in Deutschland, die sich für eine erneute Kolonialherrschaft einsetzten. Bis heute wirken koloniale Strukturen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft in Form von Rassismus und globaler Ungleichheit fort.

Folgen und Widerstand 

Die Fremdherrschaft in den Kolonien zeichnete sich durch wirtschaftliche Ausbeutung, politische Unterdrückung und alltägliche Gewalt aus. Die Menschen in den Kolonien durften oftmals ihre Sprachen nicht mehr sprechen, mussten Religionen und Traditionen ablegen und die Kolonialregierungen zwangen ihnen als Mittel zur Herrschaftskontrolle Steuergesetze auf. Viele Menschen wurden vertrieben und ihrer Heimat beraubt, da sich die deutschen Kolonisatoren die Ländereien aneigneten. Durch die Schaffung eines rassifizierenden Systems galten sie zudem nicht als gleichwertige Personen. 

Die koloniale Machtausübung der deutschen Kolonisatoren war jedoch nicht allumfassend und wurde immer wieder durch Widerstand gebrochen. Die Menschen kämpften gegen die Unterdrückung an und widersetzten sich der Fremdherrschaft in individuellen und kollektiven Formen wie Sabotage, Arbeitsverweigerung oder Kriegen – wie dem Maji-Maji-Krieg in Ostafrika (1905-1907) oder im Krieg der Ovaherero und Nama in Namibia (1904-1908). Heute spricht man bei der systematischen Ermordung tausender Ovaherero und Nama vom ersten deutschen Genozid des 20. Jahrhunderts. 

Die „Tradition“ der „Menschenschauen“ in Leipzig 

Die als „Völkerschauen“ bekannten "Menschenschauen" wurden häufig zur Unterhaltung, aber auch zur Bewerbung des Kolonialismus eingesetzt.

Der Zoo war – neben der Messe – einer der Orte in Leipzig, der diese rassistische Praxis betrieb. Von 1876 bis 1931 fanden ca. 40 Schauen statt, bei denen 750 Menschen aus Afrika, Nordamerika, Asien, Australien, Ozeanien und Nordeuropa präsentiert wurden. 

Der Ablauf der „Völkerschauen“ war meist ähnlich: Vor einer inszenierten Kulisse mussten die Zurschaugestellten vermeintliche alltägliche Tätigkeiten, Kampf- und Tanzszenen vorführen. Sie arbeiteten oft pausenlos während der gesamten Öffnungszeiten und hatten kaum Privatsphäre. 

Die Hintergründe der Personen waren sehr unterschiedlich. Ihre Biographien sind selten bekannt. Einige kannten weder Europa noch europäischen Sprachen und waren mit Gewalt oder falschen Versprechungen angeworben worden. Viele waren abhängig von den Organisatoren und wurden ausgebeutet. Andere dagegen professionalisierten sich und verdienten als Darsteller*innen ihr Geld – dies war eine der wenigen Möglichkeiten, im Kaiserreich als Schwarze Personen leben zu können.Für alle aber gilt, dass der Kontakt und die Schaustellungen unter einem kolonialen Unrechtsregime und daher ungleichen Machtverhältnissen stattfanden und rassistische Denkmuster durch die Schauen reproduziert und verfestigt wurden.

In Leipzig verstorbene Personen wurden hier begraben und die Gebeine nicht an ihre Familien zurückgegeben. So auch im Fall des Äthiopiers Hassan Essahas, der während einer „Menschenschau“ an einer Lungenentzündung starb. Zu seiner Beerdigung am 09. Mai 1906 auf dem Südfriedhof, die seine Mitreisenden organisiert hatten, kamen die Leipziger*innen in Scharen, um sich eine weitere “Show” anzusehen, was eine würdevolle Trauerfeier unmöglich machte. 

Eine kritische Aufarbeitung der „Menschenschauen“ ist bisher, trotz der langjährigen Forderung verschiedener zivilgesellschaftlicher Akteur*innen, nicht erfolgt. Auch die Ausstellungs- und Programmgestaltung des Zoos – z.B. in Form exotisierender Abendveranstaltungen – bedient sich vielfach rassistischer und kolonialer Bilder und trägt so zu einer Reproduktion bestimmter Stereotypen bei. Obwohl aktivistische Gruppen seit vielen Jahren auf diese Umstände aufmerksam machen, hat sich in der Praxis kaum etwas geändert. 

Dieser Text wurde von Leipzig Postkolonial zur Verfügung gestellt.