den Anarchismus als eine ebenso kraftvolle spirituelle Praxis
Leyla Yenirces exhibition in Magdeburg / You're invited to a queer varieté show
Dezember, die kürzesten Tage, die längsten Nächte des Jahres; und die breite, wabernde Identitäskrise, die mich seit Oktober im Griff hält beginnt, sich in eine Identitätstranszendenz zu verjüngen.
Einerseits ist es mein Stück, das den Großteil von 2024 eingenommen hatte und das ich abstreifen will. Eine kratzende, juckende Walrosshaut, die nicht mehr passt. Ein Pelz, den ich mir wachsen ließ und der nun von mir abfällt, unter dem ich hervorkommen will, ab jetzt nur noch in den Farben von Lollipops und Mandarinen.
Ich habe „Ich bin das Walross“ als Komödie geschrieben, Witz an Witz an Witz, doch beim Publikum überwiegt der in diesen Witzen versteckte Schmerz. So fühle ich durch den Spiegel der Zuschauer_innen, was ich da eigentlich sage: P-A-I-N.
So ist die Identitätskrise und daraus folgende -transzendenz eine Genderkrise bzw -transzendenz.
Naheliegend wäre es, den Zustand bis ins Detail auszuschlachten, mit einem aufregenden Confessional die alten Katzen hinter dem Publishing-Ofen hervorzulocken. „What it’s like blablabla“ etc. Dabei ist es nicht einmal Scham, die mich davon abhält, sondern Langeweile. Ich will diese Texte nicht mehr lesen und noch viel weniger will ich sie schreiben. Ich schreibe sie seit 20 Jahren. Erfahrungen hervorholen, die wehtun und an jene verkaufen, denen es ähnlich geht oder die sich mit deinem Schmerz weiterbilden und zu besseren Menschen machen wollen. Scheiße zu Gold machen hat das die Künstlerin Leyla Yenirce in Hengamehs Podcast „Auf eine Tüte mit“ genannt.
Blattlose Birken säumen die Bahnstrecke, sie gehören zu den Erstbesiedlern von Brachen und bereiten den Grund für sensiblere und langsamer wachsende Bäume. Einen Tag nach dem weltweiten Aktionstag zur Verteidigung Rojavas fahren Neo und ich nach Magdeburg, zu Yenirces Ausstellung „Splitter“ im Kunstmuseum .
Ein Bildschirm, groß wie eine Wand, steht im Kirchenschiff des Klosters Unsere Lieben Frauen. An diesem Tag ist der Bildschirm kaputt und ein zwei Meter langer schwarzer Balken stört das Bild („Techniker ist informiert“).
Das Video porträtiert eine Person, im Begleittext steht, dass es eine kurdische Frau ist, die sich im Spiegel betrachtet. Der Spiegel ist kaum sichtbar, scheint selbst ein Splitter zu sein. Sie blickt in die Kamera und daran vorbei, verbirgt und zeigt sich vor der Aufnahme mit Hilfe von Lichtreflektionen des Spiegels. Im Seitenschiff zwischen den Säulen sitzend fühle ich mich wie in einer Privatvorführung, nur ich und das Video. Ich betrachte eine Frau, die sich selbst betrachtet. In der tausend Jahre alten romanischen Kirche sind Kreuz, Altar und Bildnisse von Heiligen abgebaut. Ikone ist nun sie. Yenirce hat sich in vielen Arbeiten den Kämpferinnen der YPJ und anderen kurdischen Aktivistinnen gewidmet, hier geht es auch um sie als Projektionsflächen. Für fundamentalistische und faschistische Kräfte wie Daesh (den sogenannten IS) sind sie sinnbildlich für alles, was diese vernichten wollen. Selbstbestimmt, stark, organisiert, gebildet, entschlossen. Ich denke auch an die von Daesh entführten und versklavten êzidischen Frauen, deren „Schönheit“ Begründung für ihre Unterdrückung sein soll, die Yenirce in Interviews immer wieder thematisiert. Viele von ihnen sind bis heute nicht befreit.
Für nicht-kurdische Linke sind die kurdischen Kämpferinnen ebenfalls Projektionsflächen, Gesichter einer gerechten Gewalt, Inspiraton für feministische Selbstverteidigung und in Deutschland berichten kurdische Aktivist*innen von der Erfahrung, fetischisiert zu werden.
Hier, zwischen den mächtigen Sandsteinen des Kirchenraumes sind Menschen über tausend Jahre lang zusammengekommen, um gemeinsam zu ihrem christlichen Gott zu beten. Ich betrachte den Anarchismus als eine ebenso kraftvolle spirituelle Praxis: Wir glauben an etwas, das es nicht gibt, das uns aber den Himmel auf Erden verspricht. Dieser Glaube ist es doch, der uns Inspiration und Kraft gibt, uns auf eine Utopie zuzubewegen, d.h. zu kämpfen. Die kurdische Emanzipationsbewegung und die selbstverwalteten, demokratischen Gebiete in Rojava, Nord-Ost Syrien, sind ein Bezugspunkt für viele Anarchist_innen und die Ideologie selbst, der demokratische Konföderalismus, bezieht sich auf anarchistische Theorien. Ich finde es empowernd, dass Yenirce den ursprünglich christlichen Kirchenraum nicht verwirft, sondern nutzt, ihn damit vergrößert und ihrer Arbeit eine spirituelle Nuance hinzufügt. Wir verbringen viel Zeit mit dem Video, das selbst keine vier Minuten dauert. Die Soundinstallation entfaltet sich beim wiederholten Zuhören: Hohe Töne, alarmierend oder wie Tinitus nach einer lauten Explosion, die ersten Noten einer Orgelmusik, manche unterlegt von Bässen; bevor sie eine Melodie bilden können, Distortion und wieder breite, sphärische Klänge.
Im Museumscafé ist es warm, wir schauen durch den Kreuzgang auf den Kreuzgarten, den rechteckigen Innenhof des Klosters. Neo spricht über das Thema der Sichtbarkeit, das in „Splitter“ steckt. Für Sichtbarkeit wurde auch am Vortag mit Hilfe von Demonstrationen und sogar der Besetzung eines ehemaligen Gebäudes der türkischen Botschaft gekämpft. Die Angriffe des türkischen Staates auf die kurdische Selbstverwaltung, die dieser seit dem Fall des Assad-Regimes noch verstärkt hat, sollen ebenso sichtbar werden, wie das demokratische Projekt selbst.
Antikapitalistische Politik, Positionen und Realitäten müssen im Kapitalismus unsichtbar werden, damit wir vergessen, dass die Welt auch anders aussehen könnte.
Wir sprechen über die Verschwörungserzählung des Social Contagion: Trans Leute sind ansteckend und machen andere Leute, vor allem Kinder, trans. In „Transgender Marxism“ verweist Noah Zazanis auch auf diese rechte Erzählung und stellt ihr die sozialkognitive Theorie gegenüber, nach der wir den äußeren Einflüssen in drei Modi ausgesetzt sind. Wir sehen Vorbilder, machen handlungsmäßige Erfahrungen und erhalten direkte Unterweisung. Diese drei Modi formen die Geschlechter aller Menschen, wobei Zazanis herausarbeitet, inwiefern wir eine Agency in dieser Formung besitzen, beispielsweise, indem wir uns mit bestimmten Menschen umgeben. Nicht selten suchen Personen, lange vor dem Beginn einer wie auch immer gearteten Transition, bereits die Gesellschaft von trans oder queeren Personen, deren Medien und Räume. Die Theorie gilt übrigens für die Ausprägung von trans und cis Geschlechtern gleichermaßen. Der Aufsatz von Zazanis ist, wie der gesamte Band, bedeutend, da er aufzeigt, wie wichtig Community und Sichtbarkeit im (semi-)öffentlichen Raum für die transgender soziale Reproduktion ist. Ich erzähle, dass Casino und ich im Sommer eine Drag Show im Purgatory in Brooklyn besuchten. Eigentlich war alles genauso wie in Berlin: Was die Leute anhatten, wie sie performten, wer mit wem flirtete. Doch als Oliver Herface auftrat, wurde klar, dass wir nicht in Berlin waren, sondern in Brooklyn, d.h. in den USA / Turtle Island. Oliver ist ein New Yorker Drag Performer, auf den rechte Medien aufmerksam wurden und dessen Vorlesestunden für Kinder immer wieder von Fundi-Faschos bedroht und angegriffen werden. In seiner Performance trug er eine Zielscheibe auf der Brust und erklärte: „Meine größte Angst ist, dass sie daneben schießen und ein Kind treffen.“
Die Ausstellung “Splitter” ist noch bis 21.1.2025 im Kunstmuseum Magdeburg zu sehen.
Am 18.12.2024 lese ich ab 18.30 Uhr etwas Lyrik im TV Studio Eisenbahnstraße/Herrmann-Liebmann Straße (Link leider nur zu Instagram) beim Queer Varieté!
anarchism as an equally powerful spiritual practice
December, the shortest days, the longest nights of the year; and the broad, billowing identity crisis that has held me in its grip since October begins to narrow into an identity transcendence.
On the one hand, it is my piece that had taken up most of 2024 that I want to shed. A scratchy, itchy walrus skin that no longer fits. Fur that I let grow and that is now falling off me, under which I want to emerge, from now on only in the colors of lollipops and tangerines. I wrote “Ich bin das Walross” as a comedy, joke after joke after joke, but the pain hidden in these jokes prevails with the audience. So I felt through the mirror of my viewers what I was actually saying: P-A-I-N.
So the identity crisis and the resulting transcendence is a gender crisis or transcendence.
The obvious thing would be to exploit the situation down to the last detail, to lure the old cats out from behind the publishing stove with an exciting confessional. “What it's like blablabla” etc. It's not even shame that stops me, it's boredom. I don't want to read these texts anymore and I want to write them even less. I've been writing them for 20 years. Showing off experiences that hurt and selling them to those who feel the same way or who want to educate themselves with your pain and make themselves better people. The artist Leyla Yenirce called this “turning shit into gold” in Hengameh's podcast “Auf eine Tüte mit”.
Leafless birch trees line the railroad; they are among the first dwellers of fallow land and prepare the ground for more sensitive and slower-growing trees. One day after the worldwide day of action in defense of Rojava, Neo and I drive to Magdeburg to see Yenirce's exhibition “Splitter” (splinter) at the art museum.
A screen as big as a wall stands in the nave of Unsere Lieben Frauen Monastery. On this day, the screen is broken and a two-meter-long black bar disturbs the image (“Technician has been informed”). The video portrays a person, the accompanying text says that it is a Kurdish woman looking at herself in the mirror. The mirror is barely visible and appears to be a splinter. She looks into the camera and past it, hiding and revealing herself from the shot with the help of light reflections from the mirror. Sitting in the aisle between the pillars, I feel like I'm in a private screening, just me and the video
I look at a woman looking at herself. In the thousand-year-old Romanesque church, the cross, altar and images of saints have been taken down. She is now the icon. Yenirce has dedicated many of her works to the female fighters of the YPJ and other Kurdish activists, and this work is also about them as projection surfaces. For fundamentalist and fascist forces such as Daesh (the so-called IS), they symbolize everything they want to destroy. Self-determined, strong, organized, educated, purposeful. I am also thinking of the Ezidi women kidnapped and enslaved by Daesh, whose “beauty” is supposed to be the reason for their oppression, which Yenirce repeatedly addresses in interviews. Many of them have still not been freed.
For non-Kurdish leftists, too, the Kurdish female fighters are projection surfaces, faces of a just violence, inspiration for feminist self-defence and in Germany, Kurdish activists describe the experience of being fetishized.
Here, between the mighty sandstones of the church interior, people have come together for over a thousand years to pray to their Christian God. I see anarchism as an equally powerful spiritual practice: we believe in something that does not exist, but which promises us heaven on earth. It is this belief that gives us inspiration and strength to move towards a utopia, i.e. to fight. The Kurdish emancipation movement and the self-governing, democratic areas in Rojava, North-East Syria, are a point of reference for many anarchists and the ideology itself, democratic confederalism, refers to anarchist theories. I find it empowering that Yenirce does not reject the originally Christian church space, but uses it, thereby enlarging it and adding a spiritual nuance to her work. We spend a lot of time with the video, which itself lasts less than four minutes. The sound installation unfolds with repeated listening: High-pitched sounds, alarming or like tinitus after a loud explosion, the first notes of organ music, some underpinned by bass; before they can form a melody, distortion and again broad, spherical sounds.
It is warm in the museum café, we look through the cloister onto the rectangular inner courtyard of the monastery. Neo talks about the theme of visibility in “Splitter”. Visibility was also fought for on the previous day with the help of demonstrations and even the occupation of a former Turkish embassy building . The Turkish state's attacks on Kurdish self-government, which it has intensified since the fall of the Assad regime, shall be just as visible as the democratic project itself. Anti-capitalist politics, positions and realities must become invisible in capitalism so that we forget that the world could look different.
We talk about the conspiracy narrative of social contagion: trans people are contagious and make other people, especially children, trans. In “Transgender Marxism”, Noah Zazanis also refers to this right-wing narrative and contrasts it with social cognitive theory, according to which we are exposed to external influences in three modes. We see role models, have action-based experiences and receive direct instruction. These three modes shape the genders of all people, with Zazanis elaborating on the extent to which we have agency in this shaping, for example by surrounding ourselves with certain people. It is not uncommon for people to seek out the company of trans or queer people, their media and spaces long before the start of any kind of transition. The theory applies equally to the expression of trans and cis genders. Zazanis' essay, like the entire book, is significant because it shows how important community and visibility in the (semi-)public space is for transgender social reproduction. I tell Neo that Casino and I went to a drag show at Purgatory in Brooklyn in the summer. Actually, everything was exactly the same as in Berlin: what people were wearing, how they performed, who was flirting with whom. But when Oliver Herface appeared, it became clear that we were not in Berlin, but in Brooklyn, i.e. New York, i.e. in the USA / Turtle Island. Oliver is a New York drag performer who has come to the attention of right-wing media and whose story-hours for children are repeatedly threatened and attacked by fundamentalist fascists. In his performance, he wore a target on his chest and explained: “My biggest fear is that they'll miss and shoot a child.”
The exhibition can be visited until 21st January 2025 at Kunstmuseum Magedburg.
On 18th december 2024 at 6.30pm I am reading some poetry in TV Studio Eisenbahnstraße/Herrmann-Liebmann Straße (Link to Instagram) at the Queer Varieté!